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Jona trug schwer an seinem Rucksack. Die ledernen Riemen gruben sich in seine Schultern, die Haut glänzte im Sonnenlicht, ein prachtvoller Anblick für Stechmücken und Fliegen. Er griff nach hinten, betastete den feuchten Stoff und spürte der Rundung nach. Ähnliche Steine fand er immer wieder, aber dieser glich einer Kugel wie kein anderer. Noch vor einer halben Stunde war er im Fluss gelegen. Sein eisiges Wasser entsprang den schneebedeckten Berggipfeln und teilte den Wald in ein Hüben und ein Drüben. Seit Jahrhunderten hatte er ihn mit sich geführt, immer wieder gewälzt, gedreht und geschliffen, als wäre genau dieser ihm der liebste unter Millionen Felsbrocken gewesen. Und heute, nach all der Arbeit, die der Fluss mit ihm gehabt hatte, hatte er ihn Jona zum Geschenk auf eine Kiesbank gerollt. Jona genoss die Schinderei und lächelte, als trüge er den Vollmond nach Hause. Seine Freude schien den Wald anzustecken, der um ihn herum zirpte, surrte und flirrte. Ein Specht morste die frohe Kunde durch das Gehölz. 

Mitunter drückte Jona sein Ohr an ein Astloch, als lauschte er einem Flüstern. Doch das Erzählen lag den Bäumen nicht. Lieber knarrten und knacksten sie dumpf im wogenden Miteinander und ab und zu stimmte Jona die Zähne malmend mit ein. Besser eine schweigsam knirschende Familie als keine.

Das Häuschen, das er früher mit seiner Mutter bewohnt hatte und jetzt allein bewohnte, stand einsam auf einer Lichtung. Gerufen hatte er sie immer nur beim Vornamen: Finja. Vor gut einem Jahr war Finja der Liebe wegen in die Stadt gegangen und dann in den Tod. Jona schüttelte verächtlich den Kopf. Die Stadt hing sich ein wenig Ziergrün an die Balkone und hielt sich Bäume wie Sklaven. Was hätte er dort tun sollen, außer alles kurz und klein zu schlagen? Wald, Fluss, Häuschen, keine Finja, das war sein Zuhause.

Jona rollte den Stein neben den Schlehenstrauch. Von der Veranda aus hatte er ihn hier gut im Blick. Im Herbst, wenn die Schlehe ihre murmelgroßen Früchte bekam, würde der Stein wie eine vom Strauch gefallene Riesenbeere aussehen. Jona tätschelte seinen neuen Freund. Die glatte, von weißlichen Quarzadern durchzogene Oberfläche fühlte sich warm an, wie Haut. Dass sich darunter kein Fleisch befand, in dem ein Herz pochte, verblüffte ihn. Pietro gab sich ebenfalls skeptisch und bedachte den steinernen Mitbewohner mit einem lauten Schäär, -schäär. Den Namen verdankte der sandfarbene Wiedehopf Finja. Er hatte sie an einen italienischen Kellner erinnert. Vielleicht weil er die elegant gestreiften Flügel vornehm anlegte und sein schräg hochstehendes Kopfgefieder wirkte, als hätte er sich Gel in die Federn geschmiert. Zudem verdrehte und senkte Pietro ständig das Köpfchen, als sagte er no, no oder si, si. Mehrmals täglich kam er über die Lichtung geflattert, um sich auf dem Schornstein niederzulassen. Ihm fehlte das linke Auge, aber das tat seiner Neugier keinen Abbruch.

 

In der Nacht hatte es wie aus Eimern geschüttet. Noch vor dem Frühstück spazierte Jona nach draußen und kletterte in das volle Regenfass. Wasser gluckste und schwappte über den Rand. Die Kälte kroch ihm unter die Haut, seine Nackenhärchen stellten sich borstig auf, doch Jona lächelte, zog die Beine an und ließ sich auf den Fassboden sinken. Wie Seegras stiegen seine blonden Haare empor. Finja hatte gerne und oft im Fluss gebadet. Das eisige Wasser hatte ihre bebenden Lippen blau gefärbt und ihren ohnehin zierlichen Körper zusammengezogen. Dabei hatte aus ihren Augen die Lebenslust geleuchtet, als versteckten sich Glühwürmchen hinter den Netz-häuten.

Jona legte sich zum Trocknen auf die Veranda und dachte an den Traum, mit dem er heute aufgewacht war. Er war noch ein Junge gewesen, und Finja war ihm kaum älter vorgekommen. Den geschrumpften Altersunterschied erklärte sich der nunmehr wache Jona mit ihrem Lachen. Sie waren mit den Rädern zum See gefahren und Finja hatte sich immer wieder zu ihm umgedreht und lauthals gelacht. Lachen verjüngt die Menschen. Bis ihn ein merkwürdiges Kribbeln am Bauch aus den Gedanken riss, überlegte Jona, ob diese Radtour jemals stattgefunden hatte. Den See gab es. Gemeinsam mit seinem Vater waren sie oft dort gewesen. An einen Ausflug mit Finja allein konnte er sich aber nicht erinnern.

Die grelle Sonne über sich, öffnete Jona die Augen einen schmalen Spalt und sah an sich hinunter. In seiner Nabelmulde saß eine Heuschrecke, die sich das rechte Vorderbein leckte und ihre Fühler gegengleich auf und ab bewegte. Eine Weile sah er ihr aufmerksam zu und war fasziniert von dem zartgliedrigen Wesen. Als sie auf seinen Hodensack sprang, hob er dann doch die Hand. Verfing sie sich erst in den Haaren, war sie kaum zu entwirren, ohne ihr Gliedmaßen ausreißen zu müssen. Zum Glück witterte die Heuschrecke die Gefahr und verschwand im hohen Bogen zwischen Schafgarben, Sauer-ampfer und Gänseblümchen. Über die Wiese wehte ein süßherbes Pollengemisch. Es war ein herrlicher Tag.

WOLKENZIEGEL

Erzählband

 

Wie man nur so etwas Schreckliches tun kann, denkt Mascha, Wolken in rechteckige Ziegel pressen und auf Paletten schichten. Natürlich weiß sie, dass das nicht stimmt, dass sie sich das gerade ausgedacht hat, dennoch fühlt sich der Gedanke richtig an. So sind die Menschen, es ist ihnen zuzutrauen, und wenn sie es könnten, die Wolken vom Himmel saugen und in einer Presse zu kleinen, leblosen Ziegel zusammenquetschen, dann würden sie das auch tun. Mascha streichelt einen Ytong-Stein, die raue Oberfläche lässt sie an ihre Fersen denken, und hievt ihn schließlich in den Einkaufswagen. Sie schüttelt den Kopf: fünf Euro siebenundzwanzig für eine Wolke, die einmal frei und ungestüm über engstirnige Menschenköpfe einfach hinwegschwebte.

Heute hat Mascha ihren Einkaufswagen nicht lange suchen müssen – ja, ihren, und wenn sie ...

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